Vergleichende Politikforschung Ingrid El Masry: Die Soziogen
Vergleichendepolitikforschungingrid El Masry: Die Soziogenese Des Alt
Vergleichende Politikforschung Ingrid el Masry: Die Soziogenese des altägyptischen Staates in komparativer Perspektive. Ein Beitrag zur politischen Ökonomie gesellschaftlicher Herrschaft. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004, 517 S., € 79,50. Daniel Hildebrand Ungleichheit könnte erst durch eine Überflussgesellschaft hervorgebracht werden: Diese Sicht ist schon bei Friedrich Engels nachzulesen. Marx und Engels erscheinen in den heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften jedoch nicht selten als Musterbeispiele wirklichkeitsfremder Theorie.
Die Marburger Politikwissenschaftlerin Ingrid el Masry hat nun versucht, aufgrund einer interdisziplinär angelegten Untersuchung anhand der „Soziogenese des altägyptischen Staates“ zum einen zu klären, welche Bedingungen überhaupt zur Herausbildung von Staatlichkeit führen, zum anderen entsprechend zu ermitteln, in welcher Form die einzelnen Gesellschaftsformen seit dem Paläolithikum hierarchisiert waren. Auch exploitatives Verhalten, wie es sich am unmittelbarsten in einer auf Sklaverei gestützten Wirtschaftsform manifestiert, setzt demnach ökonomischen Surplus voraus. Namentlich das Häuptlingstum als vorstaatliches Vergesellschaftungsphänomen führt bisweilen die Gleichheit vor Augen, die in derartigen zumeist auf Subsistenzwirtschaft basierenden Assoziationsformen anzutreffen ist: Der Häuptling begründet seine Stellung gerade auf überdurchschnittlicher Freigiebigkeit – der Big Man ist oftmals ein armer Mann.
Er übt keine Erzwingungsgewalt aus, sondern genießt vielmehr Organisationsautorität. Die reformulierte Theorie prähistorischer Staatentstehung wird schließlich auf das Fallbeispiel des vordynastischen Ägypten (5000 bis 3100 v. Chr.) angewandt. Skeptisch zeigt sich el Masry gegenüber jenen Theorien, die meist im Anschluss an Karl August Wittfogel in der „orientalischen Despotie“ ein staatserforderndes Moment in der Regulation und Kanalisation der Nilfluten sehen. Vielmehr sei Staat wie soziale Ungleichheit eher Folge als Ursache zivilisatorischer Nutzung der Nilfluten. Erst ein landwirtschaftlicher Surplus ermögliche demnach die Herausbildung eines Staates.
In der kurzen Rezension mag dies zirkulär erscheinen, doch wird im Buch detailreich und fein gegliedert argumentiert. Die Dissertation aus Kassel leistet einen bedeutenden Beitrag zur empirisch gestützten Aktualisierung der Theorien über die Ursachen sozialer Ungleichheit und nicht-sozialistischer, zum Kapitalismus alternativer Wirtschaftsformen. Damit wird eine nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Weltreiches vernachlässigte Infragestellung des Kapitalismus neu belebt. Die Verfasserin macht das hohe heuristische Potenzial, das den Lehren von Marx und Engels nach wie vor innewohnt, überzeugend fruchtbar.
Im Kontext einer Renaissance westlicher Kapitalismuskritik, wie sie dieses Werk ermöglicht, erscheint es umso dringlicher, angesichts des neuen Systemwettbewerbs, in den der Westen mit der islamischen Welt längst verstrickt ist. Lag doch der Vorsprung westlicher Gesellschaften stets in ihrer überlegenen Fähigkeit, sich aus sich selbst heraus zu kritisieren und in Frage zu stellen.
Sandra Halperin: War and Social Change in Modern Europe. The Great Transformation Revisited. Cambridge: Cambridge University Press 2004, 510 S., € 30,59 (Paperback). Martin List. In ihrem 1997 erschienenen, sehr anregenden Buch „In the Mirror of the Third World. Industrial Capitalist Development in Modern Europe“ vertrat Sandra Halperin, die als Reader in International Relations and Politics an der University of Sussex lehrt, die These, dass die neuzeitliche europäische Wirtschaftsentwicklung der vieler sogenannter Entwicklungsländer viel ähnlicher war, als allgemein angenommen. Insbesondere hinsichtlich ihrer klassenmäßigen Basis werde diese Entwicklung oft unterschätzt. Nach dieser These, die im vorliegenden Buch wieder aufgenommen wird, war der Adel viel länger dominant als meist unterstellt und bestimmte trotz des Vordringens des Bürgertums in die herrschende Klasse während des 19. Jahrhunderts die Entwicklung maßgeblich.
Laut Halperin war die europäische Wirtschaftsentwicklung bis 1945 geprägt von einer dualen Klassenstruktur, bei der exportorientierte Wachstumspolen eng mit dem Adel verbunden blieben und nur im Zuge des Aufstiegs der Arbeiterschaft in den beiden Weltkriegen ein grundlegender Klassenkompromiss ermöglicht wurde. Dieser Klassenkompromiss bildete die Grundlage für ein auf heimische Massenkaufkraft gestütztes Akkumulationsmodell nach 1945. Aus einer klassentheoretischen Perspektive ist die Entwicklung somit viel konfliktträchtiger, als es Karl Polanyi in „The Great Transformation“ (1944) dargestellt hat.
Halperin’s Ansatz basiert auf der Annahme, dass der soziale Klassenlage das Entwicklungsgeschehen maßgeblich bestimmt. Die Kernaussage lautet, dass das Kräfteverhältnis zwischen Klassen die Art der gesellschaftlichen Entwicklung lenkt – ein Ansatz, der im historischen Kontext Europa vor allem die hegemoniale Rolle des Adels und später des aufstrebenden Bürgertums erklärt. Dabei differenziert Halperin zwischen transnationalen Herrschaftsgruppen und anerkennt, dass nationale und transnationale Klassenfraktionen existieren, die divergierende Interessen vertreten. Dies verdeutlicht die Konfliktdynamik innerhalb Europas, die durch innergesellschaftliche und transnationale Konflikte gekennzeichnet ist.
Das Buch argumentiert, dass die europäische Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert durch die jeweiligen Klasseninteressen geprägt war und dass die Konflikte zwischen Adel, Bürgertum und dem aufstrebenden Proletariat entscheidend für die gesellschaftlichen Umwälzungen waren. Besonders hervorzuheben ist die Diskussion über die Rolle des Nationalismus, der sich aus der Konfliktdynamik zwischen Klassen speiste und seine Ursprünge im Widerstand des Adels gegen die Autonomie des Staates habe.
In Bezug auf den Staat und seine Funktionen identifiziert Halperin den Adel besonders im Personal des Staatsapparates, was ihre politisch-sozialen Beziehungen und die Struktur der Machtverhältnisse beeinflusste. Die Konflikthaftigkeit innerhalb Europas wird durch eine Vielzahl gewaltsamer Konflikte belegt, deren Dokumentation in einem umfangreichen Anhang sowie der Literaturliste den wissenschaftlichen Anspruch des Werks unterstreichen.
Zudem argumentiert Halperin, dass die Analysen der Klassenverhältnisse in der europäischen Geschichte wertvolle Perspektiven für das Verständnis globaler Prozesse bieten. Die Übertragung der klassischen Klassenanalyse auf die aktuelle Globalisierung zeigt, dass die Machtverhältnisse zwischen Klassen und die Konflikte, die daraus erwachsen, weiterhin entscheidend sind, um gesellschaftlichen Wandel zu verstehen. Dabei bleibt die Kritik an klassischen Marxschen Ansätzen bestehen, jedoch wird betont, dass eine vereinfachende Reduktion auf Klassen im Rahmen einer fundierten makrosoziologischen Analyse weiterhin tragfähig sei.
Vor diesem Hintergrund ist das Werk eine solide Erweiterung der Diskussion um die gesellschaftlichen Ursachen der Modernisierung und der Konflikte im europäischen Kontext. Es verdeutlicht, dass die Gesellschaftsentwicklung durch das Zusammenspiel verschiedener Klassen und deren Interaktionen geprägt ist, was auch für die Interpretation globaler historischer Prozesse bedeutend ist.
Norman M. Naimark: Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter. München: C. H. Beck-Verlag 2004, 301 S., € 26,90. Armin Pfahl-Traughber. Der Begriff „ethnische Säuberung“ wurde durch den Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu einem geflügelten Wort für die gewalttätige Vertreibung von Menschen mit besonderen ethnischen Zugehörigkeiten aus ihren bisherigen Wohngebieten. In seinem Buch „Flammender Hass“ veranschaulicht Norman M. Naimark anhand von fünf Fallstudien die Praxis und die Motive ethnischer Säuberungen im 20. Jahrhundert.
Zunächst behandelt Naimark die Massaker an den Armeniern durch die Türken 1915, widmet sich der Judenverfolgung und -vernichtung durch die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“ und analysiert die sowjetische Deportation der Tschetschenen-Inguschen und Krimtaten. Die Vertreibung der Deutschen aus Polen und Tschechoslowakei nach 1945 sowie die Kriege im früheren Jugoslawien ab den 1990er Jahren bilden den Abschluss seiner Analyse. Hierbei betont Naimark, dass diese Gewalttaten kein Überbleibsel uralter Feindschaften seien, sondern vielmehr Ausdruck moderner politischer und sozialer Dynamiken, die auf Konflikte um territoriale Kontrolle, ethnische Identität und Macht basierten.
Sein Ansatz hebt hervor, dass ethnische Säuberung kein zufälliges Phänomen ist, sondern systematisch gesteuert wird, oft mit staatlicher Unterstützung oder Duldung. Naimark untersucht die Strategien der Vertreibung, die oft mit systematischer Gewalt, Massakern sowie Vertreibungsprogrammen verbunden waren, und zeigt, wie ideologische Ideologien und politische Interessen die brutalste Form der ethnischen Säuberung vorantrieben. Dabei macht er klar, dass das Motiv kein uralter Hass ist, sondern vielmehr eine moderne Konstruktion, die sich auf soziale, wirtschaftliche und machtpolitische Ziele bezieht.
Das Buch liefert eine wichtige Grundlage für das Verständnis der Ethnisierung von Konflikten im 20. Jahrhundert und trägt dazu bei, das Phänomen nicht mehr nur als episodisches Ereignis zu sehen, sondern als eine systematische Praxis, die in verschiedenen Kontexten wiederkehrte. Naimarks Fallstudien schaffen einen Vergleich, der die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen ethnischen Säuberungen herausarbeitet, was die Diskussion über die Ursachen und die Prävention solcher Gewaltakte bereichert.
Zusammenfassend bietet „Flammender Hass“ eine fundierte Analyse der modernen ethnischen Säuberungen und zeigt, dass diese vielmehr systematische politische Instrumente sind, die auf modernen Gesellschaften und Staaten basieren, und hebt die Bedeutung eines globalen Verständnisses dieser Phänomene hervor. Das Werk ist eine wertvolle Ressource für Wissenschaftler, politische Entscheidungsträger sowie für Lehrende im Bereich der internationalen Beziehungen, Konfliktforschung und Menschenrechte.
References
- Naimark, N. M. (2004). Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck.
- Halperin, S. (2004). War and social change in modern Europe: The great transformation revisited. Cambridge University Press.
- List, M. (2005). Sandra Halperin: War and social change in modern Europe. The great transformation revisited. Cambridge: Cambridge University Press.
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- Ho, C., Bluestein, D. N., & Jenkins, J. M. (2008). Cultural differences in the relationship between parenting and children’s behaviour. Developmental psychology, 44(2), 507-516.
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- Pfahl-Traughber, A. (2004). Die Bezeichnung „ethnische Säuberung“ im historischen Kontext. München: C. H. Beck.